Leseempfehlung: «Wer hat Angst vor Tell?» von Oliver Zimmer
Unsere Leseempfehlung: «Wer hat Angst vor Tell?» von Oliver Zimmer  Mit seinem neuesten Buch «Wer hat Angst vor Tell?» liefert der an der University of Oxford lehrende schweizerisch-britische Historiker einen wichtigen Beitrag zur aktuellen europapolitischen Diskussion in der SchweizEr versteht sein Buch als Denkanstoss für eine selbstbewusste Republik Schweiz, indem er das Verhältnis von Demokratie, Liberalismus und persönlicher Freiheit ausleuchtet.  Gemäss einer der zentralen Thesen von Oliver Zimmer betrachten die meisten Menschen eine möglichst weitgehende demokratische Mitbestimmung als Grundlage ihrer persönlichen Freiheit. Dieses Modell war für den Liberalismus demokratisch-republikanischer Prägung in der Schweiz lange wegleitend. Es beruht auf einem Gesellschaftsvertrag, auf dessen Basis die Legitimation zu entscheiden und zu regieren von unten nach oben delegiert wirdWährend die sozial elitär gestimmten Liberalen diesen Gesellschaftsvertrag als provinziell und als Fortschrittshindernis betrachteten, erweist sich dieser Liberalismus für Oliver Zimmer als zukunftsfähig, weil er die Freiheit und Prosperität der vielen im Auge behält. Er kritisiert insbesondere die Strömungen im Liberalismus, die den Supranationalismus als alternativlos und gleichbedeutend mit Fortschritt betrachten. Stattdessen plädiert Zimmer für einen republikanischen Liberalismus, bei dem persönliche Freiheit und demokratische Mitbestimmung an erster Stelle stehen  Es ist deshalb wenig erstaunlich, wenn Oliver Zimmer einer supranationalen Organisation wie der EU, in der die wirtschaftliche Freiheit von Anfang an wichtiger war als die politische, kritisch gegenübersteht. Während das Europäische Parlament weiterhin wenig zu sagen hat, haben stattdessen neben dem Europäischen Rat die Gerichte ihr Machtbefugnis ständig ausgedehnt. Vor allem der 1959 errichtete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) betreibt durch seine extensive Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention de facto Politik in allen RechtsbereichenEr verkörpert nach Zimmer das institutionalisierte Misstrauen gegenüber demokratischer Mitbestimmung, und betreibt Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, Sozialpolitik, Migrationspolitik – und zwar weit über den Schutz der Freiheitsrechte hinaus. Damit greift der EGMR in die Souveränität der Parlamente der europäischen Staaten ein.  Mit Blick auf die aktuelle Debatte kommt Zimmer zum Schluss, dass die Schweiz einen zu hohen Preis für das Rahmenabkommen bezahlen muss. Wer den Vertrag einen guten Kompromiss nenne, der habe seinen «demokratiepolitischen Kompass» verloren, urteilt Zimmer: Denn die direkte Demokratie nach Schweizer Modell stelle für die EU, die mit ihren Gerichten das Recht als Instrument der Politik verwende, letztlich lediglich einen systemwidrigen Störfaktor dar.    Oliver Zimmer. Wer hat Angst vor Tell? Unzeitgemässes zur Demokratie. Echtzeit-Verlag, Basel 2020. 181 Seiten.